Product Sense I

11. Dezember 2022

Der unsichtbare Faktor für erfolgreiche Produktentwicklung

Die agile Produktentwicklung beschreibt den Prozess, ein werthaltiges Produkt so effektiv und effizient wie möglich an die passende Zielgruppe zu bringen. Durch die Überprüfung von kritischen Hypothesen durch kostengünstige Experimente und qualitativem Kundenfeedback, erfolgt eine schrittweise Annäherung an die richtige Lösung. Fehlentwicklungen können so frühzeitig erkannt und korrigiert werden. Der Weg von einer vielversprechenden Opportunität zu einem potenziellem Produkt bis hin zu einem erfolgreichen Geschäft erfordert dabei Hunderte von Entscheidungen und oft sogar komplette Richtungswechsel, ehe ein aus Kunden- und Unternehmenssicht gleichermaßen werthaltiges Produkt entstanden ist. Jede falsche Entscheidung ist mit unnötigen Kosten verbunden und verschafft im schlechtesten Fall dem Wettbewerb einen Vorsprung, der nur schwer wieder aufzuholen ist.

Als Produktmanager:in steht man dabei wiederholt vor der Herausforderung gute Entscheidungen treffen zu müssen. Neue, noch unausgereifte Produktideen, oder auch bereits sehr konkrete Feature-Anforderungen, müssen verstanden, eingeordnet und hinsichtlich ihrer voraussichtlichen Wirkung richtig eingeschätzt werden. Ein guter Product Sense — oder auch Produktgespür — hilft in diesen Situationen, die gewünschte Wirkung einer Idee oder Anforderung schnell richtig bewerten zu können. Product Sense ist somit ein entscheidender Faktor für bessere Entscheidungen in der Produktentwicklung und hilft dadurch Kosten und Zeit zu sparen. Gleichzeitig stellt ein stark ausgeprägter Product Sense jedoch keinen Ersatz für das Testen von Produktideen dar. Die Überprüfung von Ideen und Hypothesen bleibt weiterhin notwendig.

Laut einer Umfrage unter 1.000 Produktmanager:innen aus dem Jahr 2022 wurde Product Sense, nach “Communication” und “Execution”, als eine der drei wichtigsten Fähigkeiten im Produktmanagement genannt. Allerdings ist es auch eine jener Fähigkeiten, die im Produktmanagement am wenigsten klar definiert sind. Deshalb wollen wir im Folgenden den Begriff des Product Sense klären und näher beschreiben, wie man diese Fähigkeit aufbauen kann.

Was ist Product Sense?

Als Product Sense beschreibt man im Allgemeinen eine Intuition für richtige Entscheidungen in der Produktentwicklung. Dies ist jedoch keine angeborene Fähigkeit, sondern etwas, dass erlernbar ist und im Laufe der Zeit weiterentwickelt werden kann. Ein gutes Produktgespür ist die erworbene Fähigkeit, Produkte oder Änderungen an bestehenden Produkten so zu gestalten, dass sie die beabsichtigte Wirkung auf ihre Nutzer:innen oder Kund:innen haben und gleichzeitig einen positiven Effekt auf das eigene Geschäft erzeugen.

“Great product sense = generally being right about which product changes will have the intended impact.”
Lenny Rachitsky

Ein gutes Produktgespür beruht dabei im Wesentlichen auf vier Faktoren: Dem Einfühlungsvermögen, um sinnvolle Nutzerbedürfnisse entdecken zu können. Produkt- und Domänen-Wissen wie erfolgreiche Lösungen auf dem Markt funktionieren können. Kreative Lösungsfindung, um Nutzerbedürfnisse und Unternehmensbedürfnisse gleichsam effektiv erfüllen zu können. Und schlussendlich auch auf die Erfahrungen die man im Laufe der Zeit in der Produktentwicklung sammelt. Im weiteren Verlauf werden insbesondere die ersten beiden Faktoren näher betrachtet, da sie die Grundlage für anschließende kreative Prozesse und das Sammeln von Erfahrungen bilden.

Die Bedeutung von Product Sense

Vor ein paar Jahren beschlossen die verantwortlichen Entscheider eines großen deutschen Technologieunternehmens, ein neues Produkt für eine bestehende Zielgruppe auf den Markt zu bringen. Sie hatten alle möglichen Daten und Fakten gesammelt und sorgfältig den Markt analysiert. Die Entscheider waren überzeugt, dass das Produkt in kürzester Zeit die Umsätze in dem jeweiligen Kundensegment verdreifachen würde. Die Produktmanagerin und ihr Entwicklungsteam begannen also sofort mit der Konzeption und Umsetzung der Anforderungen und aller dafür erforderlichen Features, die sie auf der Grundlage ihrer Recherchen identifiziert hatten. Sie waren sich sicher, dass das neue Produkt ein voller Erfolg werden würde. Nach einigen Monaten war das Produkt endlich fertig und bereit für den Markteintritt. Die Marketingabteilung startete eine große Werbekampagne, um das neue Produkt unter den Bestandskunden zu bewerben. Alle Beteiligten waren überzeugt, dass es ein großer Erfolg werden würde. Leider war das Gegenteil der Fall. Die Kunden reagierten überhaupt nicht auf das neue Produkt und es verkaufte sich sehr schlecht. Das Team war verwirrt und fragte sich, was schief gelaufen war. Schließlich fanden sie heraus, dass sie bei der Entwicklung des Produkts zu sehr auf die Umsetzung der Anforderungen konzentriert gewesen waren und dabei wenig Gespür für das Produkt und die Auswirkung auf Kund:innen und Geschäft besaßen. Sie hatten nicht darüber nachgedacht, ob das Produkt wirklich das bieten würde, was die Kund:innen brauchten und ob sich mit den eingesetzte Mitteln der Umsatz überhaupt beeinflussen ließe.

Dies ist zu­ge­ge­be­ner­ma­ßen eine rein fiktive Geschichte. Aber so oder zumindest so ähnlich spielt sie sich nach unseren Erfahrungen vielfach in Unternehmen ab. Sie ist ein gutes Beispiel dafür, warum ein gutes Produktgespür für die Entscheidungen im Produktmanagement von großer Bedeutung ist. In Organisationen, in denen wenig Produktverständnis vorherrscht, sind Produktmanager:innen in der Praxis häufig eher für die bloße Umsetzung externer Anforderungen verantwortlich. Dabei kann weder weiter in die Zukunft voraus gedacht werden, noch Anforderungen auf deren Wirksamkeit hinterfragt oder plausibilisiert werden. Es fehlt schlichtweg das Verständnis, wie Produkte aufgebaut sind und im Allgemeinen funktionieren. Das Produktmanagement hat wenig Möglichkeit, eine Vorstellungskraft davon zu entwickeln, welche Wirkung einzelne Anforderungen auf Nutzer:innen, Kund:innen, das Produkt und das Geschäftsmodell insgesamt haben können. Für Produktmanager:innen in solchen Umgebungen ist es schwierig, gute und in die Zukunft gerichtete Entscheidungen treffen zu können. Deshalb ist es wichtig, dass Product Sense organisationsweit aufgebaut wird. Ein gutes Produktgespür hilft Produktmanager:innen und anderen Entscheidungsträgern die richtigen Fragen zu stellen und Anforderungen besser einordnen zu können. So können richtige Entscheidungen in Bezug auf die gewünschte Wirkung getroffen und teure Fehlentwicklungen vermieden werden.

Ein gutes Produktgespür hilft Produktmanager:innen …

  1. Kausale Zusammenhänge besser zu verstehen
  2. Potenzielle Auswirkungen in komplexen Systemen einschätzen zu können
  3. Risiken frühzeitig zu erkennen
  4. Mehr Wirkung für Kunden und das eigene Unternehmen zu erzielen
  5. Gute, zielführende Fragen zu stellen
  6. Richtige Entscheidungen zu treffen

Auch wenn die Fähigkeit des Product Sense in erster Linie Entscheidungsträger:innen in der digitalen Produktentwicklung zugutekommt — im Wesentlichen also den Produktmanager:innen — kann diese Fähigkeit auch für weitere Rollen rund um die Produktentwicklung von Nutzen sein: Von Engineering über Design bis hin zu Marketing, Sales und Customer Support kann ein stark ausgeprägter Product Sense hilfreich sein, sich besser in die Produktentwicklung zu involvieren und dabei aktiver an der Gestaltung des Produkts mitzuwirken. Dementsprechend ist die Entwicklung von Product Sense für alle, die Produktentscheidungen treffen müssen oder mitgestalten wollen, von großem Vorteil.

Co-Autor Nikkel Blaase. Link
Dieser Artikel wurde ursprünglich auf Medium veröffentlicht. Lesen

Er ist zusammen mit anderen im Buch „Digitales Produktmanagement“ erschienen. Link