Product Sense II

11. Dezember 2022

Wie Product Sense entwickelt werden kann

Wer Product Sense entwickelt, bildet sich gleichzeitig eine starke Meinung. Aus zunächst unvollständigen Informationen werden Hypothesen oder Argumente abgeleitet, die eine Schlussfolgerung bzw. neue Perspektive zulassen. Dies ist wichtig, um Entscheidungen treffen zu können. Andererseits kann sich diese Meinung mit neuen Erkenntnissen auch wieder ändern. Die eigene Meinung muss kontinuierlich auf ihre Gültigkeit hin überprüft werden: Stimmen die Hypothesen noch oder gibt es widerlegende Beweise? Was sind die Perspektiven der anderen Teammitglieder? Haben sich Neigungen gebildet, die einer objektiveren Meinung im Weg stehen? Sobald grundlegende Hypothesen nicht mehr stimmen, muss Gelerntes auch wieder bewusst verlernt werden. Je informierter die Intuition, desto besser. Es ist ein Paradoxon — die Fähigkeit, Vertrauen in die eigenen Ideen zu haben und die Demut, an dem zu zweifeln, was man weiß. Product Sense ist eine starke Meinung, die aber nicht unumstößlich sein sollte.

“[…] my mantra for this process is ‘strong opinions, weakly held.’ Allow your intuition to guide you to a conclusion, no matter how imperfect — this is the ‘strong opinion’ part. Then –and this is the ‘weakly held’ part– prove yourself wrong.”
Paul Saffo

Je mehr Erfahrungen Produktmanager:innen in ihrer Karriere sammeln, umso wahrscheinlicher ist es, dass sie auch ein tiefgehendes Verständnis und gutes Gespür für Produkte entwickelt haben. Das Vorhandensein von Product Sense ist damit also einer der wesentlichen Faktoren, welcher seniorige von juniorigen Produktmanager:innen unterscheidet. Allerdings kommt diese Fähigkeit nicht einfach von selbst, sondern muss aktiv gebildet und beständig weiterentwickelt werden. Wie bereits erwähnt, braucht es dafür vor allem Empathie und ein tiefes, ganzheitliches Verständnis von Produkt, Business und Domäne. Darauf wollen wir im nächsten Abschnitt genauer eingehen.

Empathie aufbauen

Eine wichtige Fähigkeit, um Product Sense entwickeln zu können, stellt der Aufbau von Empathie dar. Produktmanager:innen müssen die Zielgruppe(n) tiefgründig verstehen, sich in ihre Lage versetzen und ihre Welt einfühlen können. Nur dann sind sie fähig, die Wirksamkeit von neuen Produktmerkmalen in Bezug auf Geschäftspotenzial und Mehrwert für die Kund:innen bewerten zu können.

Das Einfühlungsvermögen muss trainiert und aktiv gebildet werden. Produktmanager:innen sind keine echten Nutzer:innen oder Kund:innen des Produkts, welches sie entwickeln — dies gilt auch dann, wenn sie das Produkt selbst nutzen. Deshalb müssen Produktmanager:innen direkt und regelmäßig mit Nutzer:innen oder Kund:innen sprechen, um diese zu verstehen und Muster zu erkennen. Es reicht nicht aus, nur von Customer Support oder Research Team informiert zu werden. Zum einen entfällt die Möglichkeit zur Nachfrage für ein noch besseres Verständnis und zusätzlichem Kontext, zum anderen ist die wiederkehrende und regelmäßige Interaktion wichtig, da Kundenbedürfnisse und Nutzungsverhalten sich über die Zeit verändern können. Eine Nutzeraussage, welche gestern noch interessant erschien, ist heute vielleicht schon obsolet. Darüber hinaus bietet die Observation von Nutzungsverhalten und die Messung von Interaktion mit dem Produkt sinnvolle Hinweise auf die Bedürfnislage der Endnutzer:innen. Das Verheiraten von qualitativen Beobachtungen mit quantitativen Daten steigert das Einfühlungsvermögen noch weiter. Daher müssen Produktmanager:innen in Research unbedingt integriert werden bzw. diesen selbst (mit)ausführen, um Product Sense bilden zu können.

“Es ist Zeit, sich die Research-Butter nicht mehr vom Brot nehmen zu lassen! Lass die Biz Devs und Marktforscher machen, was immer sie machen wollen, du musst für dich deinen Frühphasen-Research definieren und auch ausführen — basierend auf deinen spezifischen Produktmanagement-Fragen.”
Christian Becker

Um mit Nutzer:innen oder Kunden:innen kontinuierlich in den Austausch zu kommen, müssen Proband:innen für Interviews und Tests gefunden werden. Dabei ist die Suche nach Proband:innen für ein B2C-Produkt mit großer Nutzerzahl natürlich sehr viel leichter, als bei einem B2B-Produkt für Spezialisten. Um Feedback auf das Interface eines B2C-Produkts zu bekommen, genügt es erfahrungsgemäß, in den nächsten Coffeeshop zu gehen und eine Handvoll Leute darauf anzusprechen, ob sie das Produkt kennen und nutzen. So können leicht Proband:innen gefunden werden, ohne weiteren Aufwand betreiben zu müssen. Weitaus schwieriger findet man hingegen die Nutzer:innen für B2B-Produkte. Da ist es ein guter Anfang, mit Nutzer:innen aus dem eigenen Unternehmen zu sprechen. Die Kolleg:innen kennen wiederum oftmals auch potenzielle Gesprächspartner in anderen Unternehmen, die sich als Probanden rekrutieren lassen.

Ein besonderes Augenmerk muss bei der Bildung von Intuition auf persönliche Neigungen gelegt werden. Alle Menschen sind voreingenommen, das ist unvermeidlich. Beeinflusst werden Produktmanager:innen unter anderem durch Confirmation Bias (das Handeln ist darauf ausgerichtet, die eigene Sichtweise zu bestätigen und widersprüchliche Beweise zu ignorieren), Law of small numbers (der Glaube, dass kleine Stichproben eine Gesamtbevölkerung repräsentieren) oder auch Recency bias (die Bevorzugung von Ereignissen und Ergebnissen, die gerade erst stattgefunden haben). Um einer Beeinflussung durch diese Effekte entgegenzuwirken, müssen eigene Standpunkte immer wieder überprüft werden. Doch Produktmanager:innen sind dabei nicht auf sich alleine gestellt. Sie können dabei aus den verschiedenen Perspektiven in ihrem Team und bereits vorhandenen Daten und Fakten schöpfen.

Neben dem Einfühlungsvermögen für Kund:innen und Nutzer:innen braucht es zusätzlich noch Empathie für die internen und externen Stakeholder:innen des Produktes. Ein Produkt ist Wertschöpfung für Kund:innen und Unternehmen zugleich. Ohne Kund:innen-Nutzen gibt es kein Geschäft und ohne Geschäft gibt es keine Investition in Kund:innen-Nutzen. Eine der Hauptaufgaben von Produktmanager:in ist deshalb häufig das Ausbalancieren der Bedürfnisse dieser beiden Seiten.

Produkt- und Domänen-Wissen stärken

Eine weitere wesentliche Schlüsselkompetenz für das Erlangen eines guten Product Sense, stellt das Wissen darüber dar, wie erfolgreiche Lösungen für das eigene Geschäft und den Kund:innen am Markt funktionieren können. Dazu müssen zum einen Produkte universell verstanden werden und Produktwissen aufgebaut werden. Zum anderen muss die Domäne im jeweiligen Fachgebiet verstanden und ausreichend Domänenwissen aufgebaut werden. Das bedeutet, Produktmanager:innen müssen nicht nur den Aufbau und die Basis-Elemente eines Produktes im Allgemeinen, sondern zusätzlich auch das Wissen über den jeweiligen Markt, den Wettbewerb, die verwendete Technologie als auch die Branche im Speziellen mitbringen.

Produktwissen

Die wichtigste Frage im Product Management ist wohl, was eigentlich ein Produkt ist und was es ausmacht. Häufig wird ein Produkt als Ansammlung von Funktionalitäten beschrieben, die ein Problem lösen. Im besten Fall ist damit allerdings nur eine Seite zufriedengestellt, die Kundenseite. Um das Unternehmen gleichsam zufriedenzustellen, muss das Produkt zusätzlich seine Kosten decken und einen Gewinn abwerfen. Im Kern eines jeden Produkts steht also der Wertaustausch zwischen Konsument und Anbieter. Anbieter schaffen Mehrwerte für ihre Kund:innen, die diese beispielsweise wiederum in Form von monetären Werten dem Anbieter zurückgeben. Ein Produkt ist also weit mehr.

“Building a product is NOT ‘the product’ of your startup. Your business model is ‘the product’.”
Ash Maurya

Das Geschäftsmodell ist die Blaupause des Produkts. Es beschreibt auf der Kundenseite die Zielgruppe(n), das entsprechende Wertversprechen, welches durch Problemlösung beschrieben ist und die Kanäle wie die Kund:innen und Nutzer:innen auf das Produkt aufmerksam werden. Auf der Business-Seite wird neben dem Finanzmodell, bestehend aus Kostenstruktur und Erlösströmen, der Wettbewerbsvorteil des Unternehmens beschrieben (Maurya, A. 2012.). Ganzheitlich betrachtet ist ein Produkt also mehr als nur die Summe seiner Funktionalitäten. Ein erfolgreiches Produkt vereint eine Lösung für den Kunden, für das Geschäft als auch für die Technologie (Cagan, M. 2019.). Ein generelles Verständnis des Geschäftsmodells, der Kund:innen, der Lösung, der Technologie und der einsetzbaren Ressourcen ist Basis für alle produktrelevanten Entscheidungen. Diese entsprechen gleichzeitig auch den vier großen Risiken in der Produktentwicklung: Das Risiko von Nutzbarkeit, Machbarkeit, Geschäftserfolg und Mehrwert für die Nutzer:innen und Kund:innen.

“So don’t let anyone try to tell you it’s all about the business, or it’s all about the customer, or it’s all about the technology. Product is harder than that. It’s all about all three.”
Marty Cagan

Um Geschäftsmodelle von Produkten besser zu verstehen, empfiehlt es sich, noch mehr über dessen Aufbau zu lernen. Eine schöne Übung stellt das Dekonstruieren oder Dechiffrieren von Alltagsprodukten dar. Es lohnt sich immer neugierig zu sein, neue Produkte auszuprobieren und diese aufgrund von Produktwissen in ihre Einzelteile zu zerlegen und zu analysieren. Die Erkenntnisse können dann wiederum mit anderen Produktinteressierten oder Kolleg:innen geteilt und diskutiert werden.

Domänenwissen

Neben Produktwissen ist das Domänenwissen ebenfalls essenziell für ein gutes Produktgespür. Dies bedeutet einerseits das eigene Unternehmen, Produkt, Geschäftsmodell und Kund:innen tiefgehend zu kennen und zu verstehen — andererseits auch den Markt, die Branche, Trends und Technologie-Entwicklungen als auch Wettbewerb und Konkurrenz zu kennen.

“I argue that strong product sense is better described as deep product knowledge, and is the result of truly immersing yourself into a specific product space.”
Marty Cagan

Um die Vision und Strategie der wichtigsten Konkurrenten zu verstehen, kann es hilfreich sein, dessen Produkte regelmäßig zu nutzen und mit deren Kund:innen zu sprechen. Dadurch können Schwächen und Stärken besser erkannt werden. Neben der Konkurrenzanalyse gibt es noch weitere Möglichkeiten, Domänenwissen aufzubauen: Die Zusammenarbeit mit sogenannten Subject Matter Experts, also wirklichen Experten einer Domäne, ist laut Erfahrungen sehr wertvoll, um eigenes Fachwissen zu erlangen. Dies können bestehende Kund:innen oder auch externe Berater:innen sein. Oft lassen sich auch unter den eigenen Kolleg:innen erfahrene Expert:innen finden. Um mehr über das eigene Produkt, die Kund:innen und das Geschäft zu erfahren, lohnt es sich immer auch, andere Bereiche des Unternehmens zu befragen. Egal ob Sales, Customer Success, Marketing oder Business Development, sie alle haben wertvolle Einblicke, die Produktmanager:innen ein besseres Verständnis der Domäne vermitteln können.

Co-Autor Nikkel Blaase. Link
Dieser Artikel wurde ursprünglich auf Medium veröffentlicht. Lesen

Er ist zusammen mit anderen im Buch „Digitales Produktmanagement“ erschienen. Link