Product Sense III

11. Dezember 2022

Product Sense Schnellstart

Ganz egal, ob sehr erfahren oder noch vollkommen frisch im Produkt Management. Im neuen Job — eventuell auch in einer neuen Branche — besitzen Produktmanager:innen anfangs noch wenig oder gar keine Empathie für Kund:innen oder Stakeholder. Auch das Wissen um Business, Branche und das Produkt ist noch nicht sehr umfangreich. Produktmanager:innen stehen vor der Herausforderung, innerhalb kürzester Zeit ein Produktgespür entwickeln zu müssen, um gute Entscheidungen treffen zu können. Letztendlich gibt Product Sense Sicherheit. Und die ist gerade im neuen Job von Anfang an wichtig. Je eher Product Sense also aufgebaut wird, desto eher stellt sich auch Souveränität beim Treffen von Entscheidungen ein. Aus unserer Sicht sollte das Bilden von Product Sense deshalb als Teil des Onboarding betrachtet und von Anfang an eingeplant werden.

Product Sense Checklist

Die folgende Liste beschreibt die Aktivitäten, die aus unserer Erfahrung heraus helfen können, Product Sense schnell aufzubauen. Dabei kann die zeitliche Reihenfolge von Fall zu Fall unterschiedlich sein. Außerdem darf die Liste natürlich um die individuellen Bedürfnisse und Anforderungen eines jeden einzelnen ergänzt werden.

Als Erstes

  • Regelmäßig Zeit im Terminkalender blocken, um mit Nutzer:innen und Kund:innen zu sprechen
  • Produkt- und Team-Dokumentation lesen
  • Geschäftsmodell und Value Proposition nachvollziehen und verstehen
  • Quantitative Auswertung von Analytics Daten, Performance Daten einzelner Funktionen und ähnliches sichten
  • Technische Landschaft und Möglichkeiten bzw. Einschränkungen verstehen

Gleich danach

  • Stakeholder-Interviews führen um Bedürfnisse zu verstehen und Anknüpfungspunkte zu finden
  • Perspektiven und Bedürfnisse angrenzender Bereiche, wie z. B. Sales, Marketing, Biz Dev, Customer Support, kennenlernen
  • Produkt-KPIs aufstellen und mit anderen Bereichen abgleichen
  • Von anderen Produktmanager:innen, UX-Design, Customer Support, Sales, Marketing, etc. mehr über Kundenbedürfnisse erfahren
  • Unternehmens-Vision und Mission, Ziele, Strategie, Positionierung und Differenzierung recherchieren
  • Newsletter, Podcasts, Konferenzen, Webinare, Communities of Practices, Meetups zu Produktthemen abonnieren oder besuchen

Etwas später

  • Evaluierung von ersten Prototypen mit Nutzer:innen oder Kund:innen
  • Gespräche mit Fachexpert:innen zum Aufbau von Domänenwissen
  • Mit Wettbewerbern und/oder Branchenexpert:innen austauschen
  • Fremde Produkte dekonstruieren und analysieren
  • Datenerhebungen und Nutzungsdaten der Branche untersuchen
  • Den Markt, Wettbewerb, Trends und Venture Capital Investitionen im Blick behalten
  • Branchenberichte lesen und Branchenmessen besuchen

Co-Autor Nikkel Blaase. Link
Dieser Artikel wurde ursprünglich auf Medium veröffentlicht. Lesen

Er ist zusammen mit anderen im Buch „Digitales Produktmanagement“ erschienen. Link

Product Sense II

11. Dezember 2022

Wie Product Sense entwickelt werden kann

Wer Product Sense entwickelt, bildet sich gleichzeitig eine starke Meinung. Aus zunächst unvollständigen Informationen werden Hypothesen oder Argumente abgeleitet, die eine Schlussfolgerung bzw. neue Perspektive zulassen. Dies ist wichtig, um Entscheidungen treffen zu können. Andererseits kann sich diese Meinung mit neuen Erkenntnissen auch wieder ändern. Die eigene Meinung muss kontinuierlich auf ihre Gültigkeit hin überprüft werden: Stimmen die Hypothesen noch oder gibt es widerlegende Beweise? Was sind die Perspektiven der anderen Teammitglieder? Haben sich Neigungen gebildet, die einer objektiveren Meinung im Weg stehen? Sobald grundlegende Hypothesen nicht mehr stimmen, muss Gelerntes auch wieder bewusst verlernt werden. Je informierter die Intuition, desto besser. Es ist ein Paradoxon — die Fähigkeit, Vertrauen in die eigenen Ideen zu haben und die Demut, an dem zu zweifeln, was man weiß. Product Sense ist eine starke Meinung, die aber nicht unumstößlich sein sollte.

“[…] my mantra for this process is ‘strong opinions, weakly held.’ Allow your intuition to guide you to a conclusion, no matter how imperfect — this is the ‘strong opinion’ part. Then –and this is the ‘weakly held’ part– prove yourself wrong.”
Paul Saffo

Je mehr Erfahrungen Produktmanager:innen in ihrer Karriere sammeln, umso wahrscheinlicher ist es, dass sie auch ein tiefgehendes Verständnis und gutes Gespür für Produkte entwickelt haben. Das Vorhandensein von Product Sense ist damit also einer der wesentlichen Faktoren, welcher seniorige von juniorigen Produktmanager:innen unterscheidet. Allerdings kommt diese Fähigkeit nicht einfach von selbst, sondern muss aktiv gebildet und beständig weiterentwickelt werden. Wie bereits erwähnt, braucht es dafür vor allem Empathie und ein tiefes, ganzheitliches Verständnis von Produkt, Business und Domäne. Darauf wollen wir im nächsten Abschnitt genauer eingehen.

Empathie aufbauen

Eine wichtige Fähigkeit, um Product Sense entwickeln zu können, stellt der Aufbau von Empathie dar. Produktmanager:innen müssen die Zielgruppe(n) tiefgründig verstehen, sich in ihre Lage versetzen und ihre Welt einfühlen können. Nur dann sind sie fähig, die Wirksamkeit von neuen Produktmerkmalen in Bezug auf Geschäftspotenzial und Mehrwert für die Kund:innen bewerten zu können.

Das Einfühlungsvermögen muss trainiert und aktiv gebildet werden. Produktmanager:innen sind keine echten Nutzer:innen oder Kund:innen des Produkts, welches sie entwickeln — dies gilt auch dann, wenn sie das Produkt selbst nutzen. Deshalb müssen Produktmanager:innen direkt und regelmäßig mit Nutzer:innen oder Kund:innen sprechen, um diese zu verstehen und Muster zu erkennen. Es reicht nicht aus, nur von Customer Support oder Research Team informiert zu werden. Zum einen entfällt die Möglichkeit zur Nachfrage für ein noch besseres Verständnis und zusätzlichem Kontext, zum anderen ist die wiederkehrende und regelmäßige Interaktion wichtig, da Kundenbedürfnisse und Nutzungsverhalten sich über die Zeit verändern können. Eine Nutzeraussage, welche gestern noch interessant erschien, ist heute vielleicht schon obsolet. Darüber hinaus bietet die Observation von Nutzungsverhalten und die Messung von Interaktion mit dem Produkt sinnvolle Hinweise auf die Bedürfnislage der Endnutzer:innen. Das Verheiraten von qualitativen Beobachtungen mit quantitativen Daten steigert das Einfühlungsvermögen noch weiter. Daher müssen Produktmanager:innen in Research unbedingt integriert werden bzw. diesen selbst (mit)ausführen, um Product Sense bilden zu können.

“Es ist Zeit, sich die Research-Butter nicht mehr vom Brot nehmen zu lassen! Lass die Biz Devs und Marktforscher machen, was immer sie machen wollen, du musst für dich deinen Frühphasen-Research definieren und auch ausführen — basierend auf deinen spezifischen Produktmanagement-Fragen.”
Christian Becker

Um mit Nutzer:innen oder Kunden:innen kontinuierlich in den Austausch zu kommen, müssen Proband:innen für Interviews und Tests gefunden werden. Dabei ist die Suche nach Proband:innen für ein B2C-Produkt mit großer Nutzerzahl natürlich sehr viel leichter, als bei einem B2B-Produkt für Spezialisten. Um Feedback auf das Interface eines B2C-Produkts zu bekommen, genügt es erfahrungsgemäß, in den nächsten Coffeeshop zu gehen und eine Handvoll Leute darauf anzusprechen, ob sie das Produkt kennen und nutzen. So können leicht Proband:innen gefunden werden, ohne weiteren Aufwand betreiben zu müssen. Weitaus schwieriger findet man hingegen die Nutzer:innen für B2B-Produkte. Da ist es ein guter Anfang, mit Nutzer:innen aus dem eigenen Unternehmen zu sprechen. Die Kolleg:innen kennen wiederum oftmals auch potenzielle Gesprächspartner in anderen Unternehmen, die sich als Probanden rekrutieren lassen.

Ein besonderes Augenmerk muss bei der Bildung von Intuition auf persönliche Neigungen gelegt werden. Alle Menschen sind voreingenommen, das ist unvermeidlich. Beeinflusst werden Produktmanager:innen unter anderem durch Confirmation Bias (das Handeln ist darauf ausgerichtet, die eigene Sichtweise zu bestätigen und widersprüchliche Beweise zu ignorieren), Law of small numbers (der Glaube, dass kleine Stichproben eine Gesamtbevölkerung repräsentieren) oder auch Recency bias (die Bevorzugung von Ereignissen und Ergebnissen, die gerade erst stattgefunden haben). Um einer Beeinflussung durch diese Effekte entgegenzuwirken, müssen eigene Standpunkte immer wieder überprüft werden. Doch Produktmanager:innen sind dabei nicht auf sich alleine gestellt. Sie können dabei aus den verschiedenen Perspektiven in ihrem Team und bereits vorhandenen Daten und Fakten schöpfen.

Neben dem Einfühlungsvermögen für Kund:innen und Nutzer:innen braucht es zusätzlich noch Empathie für die internen und externen Stakeholder:innen des Produktes. Ein Produkt ist Wertschöpfung für Kund:innen und Unternehmen zugleich. Ohne Kund:innen-Nutzen gibt es kein Geschäft und ohne Geschäft gibt es keine Investition in Kund:innen-Nutzen. Eine der Hauptaufgaben von Produktmanager:in ist deshalb häufig das Ausbalancieren der Bedürfnisse dieser beiden Seiten.

Produkt- und Domänen-Wissen stärken

Eine weitere wesentliche Schlüsselkompetenz für das Erlangen eines guten Product Sense, stellt das Wissen darüber dar, wie erfolgreiche Lösungen für das eigene Geschäft und den Kund:innen am Markt funktionieren können. Dazu müssen zum einen Produkte universell verstanden werden und Produktwissen aufgebaut werden. Zum anderen muss die Domäne im jeweiligen Fachgebiet verstanden und ausreichend Domänenwissen aufgebaut werden. Das bedeutet, Produktmanager:innen müssen nicht nur den Aufbau und die Basis-Elemente eines Produktes im Allgemeinen, sondern zusätzlich auch das Wissen über den jeweiligen Markt, den Wettbewerb, die verwendete Technologie als auch die Branche im Speziellen mitbringen.

Produktwissen

Die wichtigste Frage im Product Management ist wohl, was eigentlich ein Produkt ist und was es ausmacht. Häufig wird ein Produkt als Ansammlung von Funktionalitäten beschrieben, die ein Problem lösen. Im besten Fall ist damit allerdings nur eine Seite zufriedengestellt, die Kundenseite. Um das Unternehmen gleichsam zufriedenzustellen, muss das Produkt zusätzlich seine Kosten decken und einen Gewinn abwerfen. Im Kern eines jeden Produkts steht also der Wertaustausch zwischen Konsument und Anbieter. Anbieter schaffen Mehrwerte für ihre Kund:innen, die diese beispielsweise wiederum in Form von monetären Werten dem Anbieter zurückgeben. Ein Produkt ist also weit mehr.

“Building a product is NOT ‘the product’ of your startup. Your business model is ‘the product’.”
Ash Maurya

Das Geschäftsmodell ist die Blaupause des Produkts. Es beschreibt auf der Kundenseite die Zielgruppe(n), das entsprechende Wertversprechen, welches durch Problemlösung beschrieben ist und die Kanäle wie die Kund:innen und Nutzer:innen auf das Produkt aufmerksam werden. Auf der Business-Seite wird neben dem Finanzmodell, bestehend aus Kostenstruktur und Erlösströmen, der Wettbewerbsvorteil des Unternehmens beschrieben (Maurya, A. 2012.). Ganzheitlich betrachtet ist ein Produkt also mehr als nur die Summe seiner Funktionalitäten. Ein erfolgreiches Produkt vereint eine Lösung für den Kunden, für das Geschäft als auch für die Technologie (Cagan, M. 2019.). Ein generelles Verständnis des Geschäftsmodells, der Kund:innen, der Lösung, der Technologie und der einsetzbaren Ressourcen ist Basis für alle produktrelevanten Entscheidungen. Diese entsprechen gleichzeitig auch den vier großen Risiken in der Produktentwicklung: Das Risiko von Nutzbarkeit, Machbarkeit, Geschäftserfolg und Mehrwert für die Nutzer:innen und Kund:innen.

“So don’t let anyone try to tell you it’s all about the business, or it’s all about the customer, or it’s all about the technology. Product is harder than that. It’s all about all three.”
Marty Cagan

Um Geschäftsmodelle von Produkten besser zu verstehen, empfiehlt es sich, noch mehr über dessen Aufbau zu lernen. Eine schöne Übung stellt das Dekonstruieren oder Dechiffrieren von Alltagsprodukten dar. Es lohnt sich immer neugierig zu sein, neue Produkte auszuprobieren und diese aufgrund von Produktwissen in ihre Einzelteile zu zerlegen und zu analysieren. Die Erkenntnisse können dann wiederum mit anderen Produktinteressierten oder Kolleg:innen geteilt und diskutiert werden.

Domänenwissen

Neben Produktwissen ist das Domänenwissen ebenfalls essenziell für ein gutes Produktgespür. Dies bedeutet einerseits das eigene Unternehmen, Produkt, Geschäftsmodell und Kund:innen tiefgehend zu kennen und zu verstehen — andererseits auch den Markt, die Branche, Trends und Technologie-Entwicklungen als auch Wettbewerb und Konkurrenz zu kennen.

“I argue that strong product sense is better described as deep product knowledge, and is the result of truly immersing yourself into a specific product space.”
Marty Cagan

Um die Vision und Strategie der wichtigsten Konkurrenten zu verstehen, kann es hilfreich sein, dessen Produkte regelmäßig zu nutzen und mit deren Kund:innen zu sprechen. Dadurch können Schwächen und Stärken besser erkannt werden. Neben der Konkurrenzanalyse gibt es noch weitere Möglichkeiten, Domänenwissen aufzubauen: Die Zusammenarbeit mit sogenannten Subject Matter Experts, also wirklichen Experten einer Domäne, ist laut Erfahrungen sehr wertvoll, um eigenes Fachwissen zu erlangen. Dies können bestehende Kund:innen oder auch externe Berater:innen sein. Oft lassen sich auch unter den eigenen Kolleg:innen erfahrene Expert:innen finden. Um mehr über das eigene Produkt, die Kund:innen und das Geschäft zu erfahren, lohnt es sich immer auch, andere Bereiche des Unternehmens zu befragen. Egal ob Sales, Customer Success, Marketing oder Business Development, sie alle haben wertvolle Einblicke, die Produktmanager:innen ein besseres Verständnis der Domäne vermitteln können.

Co-Autor Nikkel Blaase. Link
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Er ist zusammen mit anderen im Buch „Digitales Produktmanagement“ erschienen. Link

Product Sense I

11. Dezember 2022

Der unsichtbare Faktor für erfolgreiche Produktentwicklung

Die agile Produktentwicklung beschreibt den Prozess, ein werthaltiges Produkt so effektiv und effizient wie möglich an die passende Zielgruppe zu bringen. Durch die Überprüfung von kritischen Hypothesen durch kostengünstige Experimente und qualitativem Kundenfeedback, erfolgt eine schrittweise Annäherung an die richtige Lösung. Fehlentwicklungen können so frühzeitig erkannt und korrigiert werden. Der Weg von einer vielversprechenden Opportunität zu einem potenziellem Produkt bis hin zu einem erfolgreichen Geschäft erfordert dabei Hunderte von Entscheidungen und oft sogar komplette Richtungswechsel, ehe ein aus Kunden- und Unternehmenssicht gleichermaßen werthaltiges Produkt entstanden ist. Jede falsche Entscheidung ist mit unnötigen Kosten verbunden und verschafft im schlechtesten Fall dem Wettbewerb einen Vorsprung, der nur schwer wieder aufzuholen ist.

Als Produktmanager:in steht man dabei wiederholt vor der Herausforderung gute Entscheidungen treffen zu müssen. Neue, noch unausgereifte Produktideen, oder auch bereits sehr konkrete Feature-Anforderungen, müssen verstanden, eingeordnet und hinsichtlich ihrer voraussichtlichen Wirkung richtig eingeschätzt werden. Ein guter Product Sense — oder auch Produktgespür — hilft in diesen Situationen, die gewünschte Wirkung einer Idee oder Anforderung schnell richtig bewerten zu können. Product Sense ist somit ein entscheidender Faktor für bessere Entscheidungen in der Produktentwicklung und hilft dadurch Kosten und Zeit zu sparen. Gleichzeitig stellt ein stark ausgeprägter Product Sense jedoch keinen Ersatz für das Testen von Produktideen dar. Die Überprüfung von Ideen und Hypothesen bleibt weiterhin notwendig.

Laut einer Umfrage unter 1.000 Produktmanager:innen aus dem Jahr 2022 wurde Product Sense, nach “Communication” und “Execution”, als eine der drei wichtigsten Fähigkeiten im Produktmanagement genannt. Allerdings ist es auch eine jener Fähigkeiten, die im Produktmanagement am wenigsten klar definiert sind. Deshalb wollen wir im Folgenden den Begriff des Product Sense klären und näher beschreiben, wie man diese Fähigkeit aufbauen kann.

Was ist Product Sense?

Als Product Sense beschreibt man im Allgemeinen eine Intuition für richtige Entscheidungen in der Produktentwicklung. Dies ist jedoch keine angeborene Fähigkeit, sondern etwas, dass erlernbar ist und im Laufe der Zeit weiterentwickelt werden kann. Ein gutes Produktgespür ist die erworbene Fähigkeit, Produkte oder Änderungen an bestehenden Produkten so zu gestalten, dass sie die beabsichtigte Wirkung auf ihre Nutzer:innen oder Kund:innen haben und gleichzeitig einen positiven Effekt auf das eigene Geschäft erzeugen.

“Great product sense = generally being right about which product changes will have the intended impact.”
Lenny Rachitsky

Ein gutes Produktgespür beruht dabei im Wesentlichen auf vier Faktoren: Dem Einfühlungsvermögen, um sinnvolle Nutzerbedürfnisse entdecken zu können. Produkt- und Domänen-Wissen wie erfolgreiche Lösungen auf dem Markt funktionieren können. Kreative Lösungsfindung, um Nutzerbedürfnisse und Unternehmensbedürfnisse gleichsam effektiv erfüllen zu können. Und schlussendlich auch auf die Erfahrungen die man im Laufe der Zeit in der Produktentwicklung sammelt. Im weiteren Verlauf werden insbesondere die ersten beiden Faktoren näher betrachtet, da sie die Grundlage für anschließende kreative Prozesse und das Sammeln von Erfahrungen bilden.

Die Bedeutung von Product Sense

Vor ein paar Jahren beschlossen die verantwortlichen Entscheider eines großen deutschen Technologieunternehmens, ein neues Produkt für eine bestehende Zielgruppe auf den Markt zu bringen. Sie hatten alle möglichen Daten und Fakten gesammelt und sorgfältig den Markt analysiert. Die Entscheider waren überzeugt, dass das Produkt in kürzester Zeit die Umsätze in dem jeweiligen Kundensegment verdreifachen würde. Die Produktmanagerin und ihr Entwicklungsteam begannen also sofort mit der Konzeption und Umsetzung der Anforderungen und aller dafür erforderlichen Features, die sie auf der Grundlage ihrer Recherchen identifiziert hatten. Sie waren sich sicher, dass das neue Produkt ein voller Erfolg werden würde. Nach einigen Monaten war das Produkt endlich fertig und bereit für den Markteintritt. Die Marketingabteilung startete eine große Werbekampagne, um das neue Produkt unter den Bestandskunden zu bewerben. Alle Beteiligten waren überzeugt, dass es ein großer Erfolg werden würde. Leider war das Gegenteil der Fall. Die Kunden reagierten überhaupt nicht auf das neue Produkt und es verkaufte sich sehr schlecht. Das Team war verwirrt und fragte sich, was schief gelaufen war. Schließlich fanden sie heraus, dass sie bei der Entwicklung des Produkts zu sehr auf die Umsetzung der Anforderungen konzentriert gewesen waren und dabei wenig Gespür für das Produkt und die Auswirkung auf Kund:innen und Geschäft besaßen. Sie hatten nicht darüber nachgedacht, ob das Produkt wirklich das bieten würde, was die Kund:innen brauchten und ob sich mit den eingesetzte Mitteln der Umsatz überhaupt beeinflussen ließe.

Dies ist zu­ge­ge­be­ner­ma­ßen eine rein fiktive Geschichte. Aber so oder zumindest so ähnlich spielt sie sich nach unseren Erfahrungen vielfach in Unternehmen ab. Sie ist ein gutes Beispiel dafür, warum ein gutes Produktgespür für die Entscheidungen im Produktmanagement von großer Bedeutung ist. In Organisationen, in denen wenig Produktverständnis vorherrscht, sind Produktmanager:innen in der Praxis häufig eher für die bloße Umsetzung externer Anforderungen verantwortlich. Dabei kann weder weiter in die Zukunft voraus gedacht werden, noch Anforderungen auf deren Wirksamkeit hinterfragt oder plausibilisiert werden. Es fehlt schlichtweg das Verständnis, wie Produkte aufgebaut sind und im Allgemeinen funktionieren. Das Produktmanagement hat wenig Möglichkeit, eine Vorstellungskraft davon zu entwickeln, welche Wirkung einzelne Anforderungen auf Nutzer:innen, Kund:innen, das Produkt und das Geschäftsmodell insgesamt haben können. Für Produktmanager:innen in solchen Umgebungen ist es schwierig, gute und in die Zukunft gerichtete Entscheidungen treffen zu können. Deshalb ist es wichtig, dass Product Sense organisationsweit aufgebaut wird. Ein gutes Produktgespür hilft Produktmanager:innen und anderen Entscheidungsträgern die richtigen Fragen zu stellen und Anforderungen besser einordnen zu können. So können richtige Entscheidungen in Bezug auf die gewünschte Wirkung getroffen und teure Fehlentwicklungen vermieden werden.

Ein gutes Produktgespür hilft Produktmanager:innen …

  1. Kausale Zusammenhänge besser zu verstehen
  2. Potenzielle Auswirkungen in komplexen Systemen einschätzen zu können
  3. Risiken frühzeitig zu erkennen
  4. Mehr Wirkung für Kunden und das eigene Unternehmen zu erzielen
  5. Gute, zielführende Fragen zu stellen
  6. Richtige Entscheidungen zu treffen

Auch wenn die Fähigkeit des Product Sense in erster Linie Entscheidungsträger:innen in der digitalen Produktentwicklung zugutekommt — im Wesentlichen also den Produktmanager:innen — kann diese Fähigkeit auch für weitere Rollen rund um die Produktentwicklung von Nutzen sein: Von Engineering über Design bis hin zu Marketing, Sales und Customer Support kann ein stark ausgeprägter Product Sense hilfreich sein, sich besser in die Produktentwicklung zu involvieren und dabei aktiver an der Gestaltung des Produkts mitzuwirken. Dementsprechend ist die Entwicklung von Product Sense für alle, die Produktentscheidungen treffen müssen oder mitgestalten wollen, von großem Vorteil.

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Er ist zusammen mit anderen im Buch „Digitales Produktmanagement“ erschienen. Link

Next Best Action

23. November 2017

Wie man Nutzer aus Sackgassen führt

Vor kurzem versuchte meine zweijährige Tochter mir ein Eis zu verkaufen und das Gespräch mit ihr verlief in etwa so:

Tochter: Papa, Eis kaufen?
Papa: Ja, da hätte ich jetzt wirklich Lust drauf. Welche Sorten hast du denn?
Tochter: Schokolade. Haben?
Papa: Hast du Erdbeere?
Tochter: Nein. Schokolade haben?
Papa: Eigentlich mag ich Erdbeere lieber.
Tochter: Nein, Schokolade. Hier!
Papa: Hm, okay, ja. Danke …Tochter: Papa, mehr?

Traditionelles Marketing funktioniert ähnlich: produktorientiert. Es wird versucht, ein bestimmtes Produkt, zu einem bestimmten Zeitpunkt, einer bestimmten Zielgruppe anzubieten.

Möglicherweise mag der Nutzer zwar Eis. Ist Erdbeere allerdings ausverkauft und ein Kaufabschluss unwahrscheinlich, ist es nicht sinnvoll, weiter auf Schokolade zu beharren. Langfristig leidet darunter die persönliche Bindung des Nutzers zum Eisverkäufer und im schlimmsten Fall kommt er nicht wieder.

Definition

Um das zu verhindern, wird im modernen Marketing der Nutzer in den Mittelpunkt gestellt und eine Methode dieses nutzerorientierten Marketings ist die NBA, die Next Best Action. Durch Analyse von Verhaltensdaten wird in einem Dialog mit dem Nutzer versucht, ihm produktübergreifend genau das anzubieten, was in diesem Moment für ihn und das Unternehmen am sinnvollsten ist.

Ein Eisverkäufer könnte mich zum Beispiel fragen, ob eine andere Sorte in Frage käme, mir frische Erdbeeren oder Erdbeersauce anbieten oder mich darüber informieren, wann Erdbeere wieder verfügbar ist.

Die NBA ist also keine reine Verkaufsstrategie, sondern dient der Nutzerbindung. Statt eines Monologs wird ein Dialog zwischen Unternehmen und Nutzer angestrebt, um eine nachhaltige Beziehung zwischen beiden aufbauen zu können. Das ist schon deshalb sinnvoll, weil je nach Branche die Kosten der Neukundenakquise die Kosten der Kundenbindung um ein vielfaches übersteigen können.

Die nächstbeste Aktion kann vieles sein, etwa die Eingabe weiterer Daten um bessere Angebote zu erhalten, der Hinweis auf ergänzende Informationen und Produkte oder der Vorschlag einer ganz anderen Lösung. Während eine Aktion Informationen sammelt und eine andere die Aktivität steigert, zielen alle darauf ab, langfristig und produktübergreifend Mehrwert für den Nutzer zu bieten.

Welche dieser Aktionen in dieser Situation, die richtige ist, wird durch Analyse der Nutzerdaten entschieden. Daten, die über das Verhalten gesammelt wurden, können mit Daten, die im Dialog gesammelt wurden, angereichert und verifiziert werden, um zukünftig noch passendere Vorschläge machen zu können.

Aufgrund der großen Menge an Verhaltensdaten bietet sich eine Adaption der NBA für digitale Produkte besonders an.

Voraussetzung

Damit eine NBA auch wirklich die nächstbeste Aktion ist, sollte man über folgende Informationen verfügen:

1 Bedürfnisse, Ziele, Interessen und Vorlieben
Weshalb ist der Nutzer hier, welcher Job soll für ihn erledigt werden? Grundlage für eine gute NBA sind die grundsätzlichen Bedürfnisse, Ziele, Interessen und Vorlieben des Nutzers. Da sich diese im Laufe der Zeit ändern können, ist eine ständige Überprüfung notwendig.

2 Verhalten
Verhaltensdaten geben Aufschluss darüber, auf welche Art und Weise und zu welchem Zweck mit dem Nutzer kommuniziert werden sollte. Sie zeigen welche Features in der Vergangenheit genutzt und welche NBAs, erfolglos oder erfolgreich, angeboten wurden. Jede Interaktion mit der Plattform trägt so zum Verständnis des Nutzers bei und das gewonnene Wissen kann die Relevanz der angebotenen NBA steigern. Darüber hinaus können Daten Hinweise darauf geben, zu welcher Zeit und auf welchem Kanal der Nutzer erreicht werden kann.

3 Aktion
Zum einen muss produktübergreifend entschieden werden, welche Aktion jetzt die richtige wäre. Handelt es sich um einen Hinweis oder ist eine Entscheidung nötig, hält sie den Nutzer im Produkt oder leitet sie ihn weg? Und zum anderen müssen Regeln definiert werden, wann diese angeboten wird. Schon bei der ersten Möglichkeit der Darstellung oder erst beim dritten Mal, um sicherzustellen, dass die Annahme stimmt?

4 Art und Weise
Vom Einblenden eines einfachen Hinweises, über die Abfrage von Informationen bis hin zum mehrstufigen Dialog: abhängig von der Art der Aktion gibt es unterschiedliche Möglichkeiten zu Darstellung, Verhalten und Positionierung einer NBA. Zusätzlich sollte auch Inhalt und Tonalität des Dialogs definiert werden.

5 Dauer
Für den Fall, das der Nutzer die nächstbeste Aktion nicht annimmt, sollten Regeln definiert werden. Wann und für wie lange wird eine NBA nicht mehr angezeigt und wird sie durch eine andere ersetzt?

Zusammenfassung

Bei der Nutzung digitaler Produkte kommt es immer wieder vor, das es für den Nutzer an einer bestimmten Stelle nicht mehr weiter geht und genau dort kann ihm mit der Next Best Action eine Alternative angeboten werden.

Wenn zum Beispiel ein Produkt das Nutzerproblem nicht beheben kann, so hat die nächstbeste Aktion das Ziel, es auf andere Art und Weise oder zu einem späteren Zeitpunkt zu lösen. Wurde jedoch der Job, für den er gekommen ist, erledigt, dann hat die nächstbeste Aktion das Ziel, relevante Produkte vorzuschlagen. Eine Next Best Action verhindert, das sich der Nutzer alleine gelassen fühlt und bietet ihm passende Lösungen an, statt ihn selbst danach suchen zu lassen. Sie stellen so einen Gegenentwurf zu anderen, weniger nutzerorientierten, Navigationen dar.

Für Unternehmen wiederum ist die Next Best Action eine Methode, den Nutzer anhand gesammelter Verhaltensdaten besser verstehen und führen zu können. Dadurch können ihm bessere Problemlösungen oder auch weitere relevante Produkte angeboten werden und unterstützt so die langfristige Bindung des Kunden an das Unternehmen.

Durch die Next Best Action wird eine nachhaltige Beziehung zwischen Nutzer und Unternehmen aufgebaut, in welcher der Nutzer im Mittelpunkt steht, ohne jedoch die Unternehmensbedürfnisse zu vernachlässigen.

Artikel ursprünglich auf Medium veröffentlicht. Lesen

Responsive Tab-Navigation

10. November 2016

Wie ersetzt man Tabs auf kleinen Bildschirmen?

Eines der meistgenutzten Pattern bei XING ist eine simple Tab-Navigation, von verschiedenen Produkten plattformweit genutzt. Sie kann mehrmals und beliebig auf einer Seite platziert werden, mit sehr vielen oder auch nur einigen wenigen Einträgen. Sie eignet sich für verschiedene Wortlängen in verschiedenen Sprachen und soll jetzt auch responsiv funktionieren.

In diesem Artikel gehe ich auf Alternativen ein und beschreibe unsere Lösung.

Recherche

Es gibt viele Möglichkeiten eine Tab-Navigation mobil zu ersetzen. Dropdowns, Accordions und Swipebars sind die häufigsten. Hier ein kurzer Überblick.

Dropdown
Bei einer bestimmten Breite wird die Tab Navigation durch ein Dropdown ersetzt. Ab diesem Zeitpunkt sind alle Navigationseinträge versteckt und ein User muss mit dem Dropdown interagieren um zu sehen, welche Einträge es noch gibt.

Da Dropdowns eigentlich andere Aufgaben erfüllen, werden sie nicht unbedingt als Navigationselement erkannt. Abhilfe kann hier ein gutes, aktivierendes Label, z.B. „Mehr“, „Menü“ oder „Navigation“, schaffen.

Dropdowns haben noch einige andere Probleme und wer fuckdropdowns.com bisher noch nicht gesehen hat, sollte das nachholen.

Accordion
Die einzelnen Tabs werden hier in verschiedene, vertikal angeordnete Abschnitte aufgelöst. Diese Abschnitte können standardmäßig auf- oder zugeklappt sein, mit jeweils verschiedenen Vor- und Nachteilen.

Wenn alle Abschnitte von Anfang an aufgeklappt sind, können lange, unübersichtliche Seiten mit langen Ladezeiten die Folge sein.

Sind alle Abschnitte zugeklappt, bekommt man einen guten Überblick über die Navigationseinträge. Gleichzeitig ist jedoch ein zusätzlicher Klick erforderlich, um zu echtem Inhalt zu kommen.

Der Inhalt der Abschnitte kann entweder vor- oder nachgeladen werden, was, je nach Größe der Inhalte, in Verzögerungen bei Interaktion oder langes Warten schon bei Seitenaufruf resultieren kann.

Swipebar
Sobald ein Tab nicht mehr vollständig dargestellt werden kann, wird die gesamte Tab-Navigation auf Touch-Screens wisch- oder mit der Maus ziehbar. Dieses Pattern wird hauptsächlich auf Android verwendet und ist nicht jedem Desktop-User bekannt.

Je nach Breite, wird eventuell nicht klar, dass noch weitere Navigationseinträge vorhanden sind. Ein Verlauf kann dabei helfen, das Problem zu lösen. Trotzdem muss man ggf. sehr viel interagieren, um zu sehen, welche weiteren Navigationseinträge noch vorhanden sind.

Lösung

Jedes der oben genannten Pattern hat Nachteile. Obwohl manche davon behoben werden können, gingen wir einen anderen Weg und entschieden uns für eine Mischung aus diesen Pattern: Collapsible Tabs.

Collapsible Tabs
Sobald ein Tab nicht mehr dargestellt werden kann, wird der Navigationseintrag in ein Dropdown-Menü verschoben. Alle anderen bleiben unverändert stehen. Je weniger Platz vorhanden ist, desto mehr Einträge werden im Menü platziert. Je mehr Platz man hat, desto mehr Einträge kehren auch wieder in die Tab-Navigation zurück. Und zwar sobald der jeweilige Navigationseintrag wieder dargestellt werden kann.

So wird das zusätzliche Dropdown nur dargestellt, wenn es auch wirklich gebraucht wird. Besteht eine Navigation aus nur wenigen kurzen Einträgen, tritt dieser Fall vielleicht nicht mal auf kleinen Bildschirmen auf. Zusätzlich kann auf die Definition eines festen break-points, an welchem die komplette Navigation ersetzt wird, verzichtet werden. Die Anpassung passiert automatisch, inhaltsbasiert und auflösungsunabhängig.

Es können so viele Navigationseinträge wie nötig abgebildet werden und gleichzeitig besteht die Möglichkeit, bei wenigen Einträgen, auf ein Dropdown-Menü komplett zu verzichten.

Dadurch, das mindestens ein Tab weiterhin außerhalb des Menüs bestehen bleibt, ist es leichter zu verstehen, das es sich hier um ein Navigationselement handelt.

Es bestehen einige Gemeinsamkeiten mit den Tab-Bars auf mobilen Geräten. Werden mehr Einträge benötigt als auf den Bildschirm passen, findet man auch hier häufig einen Mehr-Tab.

Zusätzlich steht genug Platz zur Verfügung um auch lange Einträge darstellen zu können, sogar Mehrzeiler sind möglich.

Fazit

Auch Collapsible Tabs haben Schwächen, trotzdem lösen sie eines unserer dringendsten Probleme: die Sichtbarkeit von so vielen Navigationspunkten wie möglich, bei gleichzeitiger Flexibilität in Bezug auf unsere anderen Anforderungen.

Artikel ursprünglich auf Medium veröffentlicht. Lesen